Wer an den Jakobsweg denkt, hat oft staubige Pfade, schweißnasse Wanderer und mittelalterliche Kathedralen vor Augen – weniger jedoch Kinder, die mit matschverschmierten Hosen über Steine springen oder abends müde in den Schlafsack kriechen. Dabei kann eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg – richtig geplant und sensibel begleitet – für Kinder wie Erwachsene zu einer tiefgreifenden Erfahrung werden: bewegungsreich, gemeinschaftsstiftend und seelisch stärkend.
Inhaltsverzeichnis
Bewegung auf dem Jakobsweg: Mehr als Schritte zählen
Der Jakobsweg ist kein Spaziergang. Aber er ist auch kein Hochleistungsevent. Im Gehen liegt ein Rhythmus, der den Körper aktiviert und gleichzeitig den Geist beruhigt. Kinder erleben diesen Rhythmus auf ihre eigene Weise – mal ausgelassen hüpfend, mal erschöpft schleppend, mal in stiller Beobachtung. Wer mit Kindern pilgert, sollte Bewegung neu denken: nicht als Weg von A nach B, sondern als lebendige, sich ständig wandelnde Tätigkeit, die Räume öffnet – nach außen wie nach innen.
Warum der Jakobsweg ein wertvoller Erfahrungsraum für Kinder ist
Körperliche Bewegung als Entwicklungsmotor
Kinder bewegen sich nicht „nur“, um sich auszutoben. Sie lernen über Bewegung – den Raum, ihren Körper, die Grenzen und Möglichkeiten der Welt. Ein Pilgerweg bietet ihnen eine Vielfalt an Bewegungsformen: Gehen, Klettern, Balancieren, Springen, Tragen, Ziehen. Gerade im unebenen Gelände wird die Tiefenwahrnehmung geschult, das Gleichgewicht gefordert und die eigene Kraft erprobt. Wer barfuß über einen Waldboden läuft oder einen leichten Anstieg mit dem Rucksack meistert, erlebt den eigenen Körper als handlungsfähig und lebendig.

Für Kinder mit Wahrnehmungsstörungen oder motorischen Unsicherheiten kann diese Art der Bewegung besonders wertvoll sein – vorausgesetzt, das Tempo ist angepasst und Pausen sind erlaubt. Hier zeigt sich: Nicht Geschwindigkeit zählt, sondern Erfahrung.
Emotionale Entwicklung durch gemeinsame Wege
Gehen verbindet – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Gemeinsam über einen längeren Zeitraum auf einem Weg zu sein, schweißt zusammen. Es entstehen Gespräche, die im Alltag keinen Platz finden. Probleme, die sonst zwischen Tür und Angel besprochen werden, dürfen sich hier in aller Ruhe entfalten. Für Eltern ist das eine Einladung, ihre Kinder neu kennenzulernen. Für Therapeuten oder Pädagogen in begleiteten Formaten kann es eine Schatzkiste an Beobachtungsmöglichkeiten eröffnen.
Kinder erleben außerdem ein Gefühl von Selbstwirksamkeit: Ich habe das heute geschafft. Ich bin diesen Weg gegangen. Ich bin Teil von etwas Größerem.
Praktische Aspekte: So wird der Jakobsweg mit Kindern machbar
Etappenwahl und Streckenplanung
Nicht alle Abschnitte des Jakobswegs sind kindertauglich. Empfehlenswert sind kurze Tagesetappen von maximal 10 bis 15 Kilometern – mit viel Spielraum für Pausen, Umwege und spontane Stopps. Besonders familienfreundlich sind beispielsweise:
- Camino Portugués: Flache, gut ausgebaute Wege, viele Unterkünfte
- Camino Inglés: Kurze Gesamtstrecke (ca. 120 km), gut in einer Ferienzeit machbar
- Abschnitte des Camino Francés zwischen Burgos und León: abwechslungsreiche Landschaft, gute Infrastruktur
Wichtig ist: Der Weg muss zum Kind passen – nicht umgekehrt.

Übernachtung, Versorgung, Tagesrhythmus
Kinder brauchen Sicherheit und Struktur – auch auf einem Pilgerweg. Ein täglicher Rhythmus mit festen Essenszeiten, vertrauten Ritualen (z. B. abends ein Tagebuch schreiben oder eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen) hilft dabei, den Weg als verlässlichen Raum zu erleben. Unterkünfte sollten familienfreundlich sein – manche Herbergen bieten sogar Mehrbettzimmer oder kleine Apartments.
In der Packliste dürfen Snacks, Trinkflaschen, Regenkleidung und kleine „Kraftspender“ (Lieblingsstofftier, ein vertrauter Gegenstand) nicht fehlen. Weniger ist hier mehr – und was getragen werden muss, sollte gut durchdacht sein.

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Bewegung, Natur und Achtsamkeit: Ein Dreiklang mit Tiefenwirkung
Bewegung in und mit der Natur
Kinder bewegen sich anders, wenn sie draußen sind. Der Waldboden fordert andere Muskeln als der Gehweg, das Rauschen der Bäume inspiriert zu anderen Gedanken als das Brummen einer Stadtstraße. Der Jakobsweg führt durch unterschiedlichste Naturräume: Pinienwälder, Olivenhaine, Hügelketten, Flusstäler. Diese Landschaften laden ein zu stiller Betrachtung, zu wildem Spiel, zum Verweilen.
Natur schafft Erfahrungsräume – nicht im Sinne von „Programmen“, sondern als offene Bühne. Hier ein Stock, dort ein Käfer, da ein Wasserlauf. Wer Kindern Zeit und Raum lässt, entdeckt mit ihnen eine Welt, die oft unbemerkt bleibt.

Achtsamkeit im Gehen: Für Kinder neu – und doch vertraut
Achtsamkeit muss nicht erklärt werden. Kinder kennen sie – wenn sie versunken eine Schnecke beobachten oder barfuß einen Bach durchqueren. Auf dem Jakobsweg lässt sich diese Haltung ganz natürlich fördern: durch langsames Gehen, bewusstes Atmen, Hören auf das eigene Tempo. Kleine Rituale wie das Sammeln eines besonderen Steins pro Tag oder ein gemeinsames „Innehalten“ an markanten Punkten können helfen, das Erlebte zu verankern.
Pädagogische und therapeutische Impulse
Pilgern als Projektarbeit: Ideen für Schulen, Horte und Jugendhilfe
Auch ohne gleich nach Spanien zu reisen, kann das Thema „Jakobsweg“ in pädagogischen Settings aufgegriffen werden. Denkbar sind:
- Projektwochen mit symbolischen Pilgerwegen (z. B. auf einem Naturlehrpfad mit Stationen)
- Wanderwochen mit Rucksack und Tagebuch
- Thematische Einheiten zu inneren Wegen, Zielen und Fragen
Dabei kann der Jakobsweg nicht nur körperliche Bewegung fördern, sondern auch emotionale, soziale und spirituelle Prozesse anstoßen.
Beispiel aus der Praxis: Eine Förderschule in Rheinland-Pfalz gestaltete im Rahmen einer Projektwoche einen „Mini-Jakobsweg“ mit 5 Stationen – jede Station thematisierte eine Frage („Was macht mich stark?“ / „Wovor habe ich Angst?“). Die Schüler*innen reflektierten diese Fragen in einer Art Reisetagebuch, das am Ende der Woche mit Eltern geteilt wurde.

Therapeutische Arbeit mit Familien
In der Familienberatung oder bei therapeutischen Gruppenangeboten kann ein gemeinsamer Pilgerweg – ob symbolisch oder real – eine alternative Form des Austauschs ermöglichen. Besonders bei festgefahrenen Dynamiken hilft das Gehen, neue Perspektiven zu eröffnen. Gespräche im Gehen sind oft freier, unverkrampfter – der Blick ist nach vorn gerichtet, nicht aufeinander.
Für therapeutische Settings bieten sich zum Beispiel an:
- Pilgerwanderungen als Wochenend- oder Ferienformat
- Pilgertage mit therapeutischer Begleitung
- Arbeit mit Symbolen des Weges (Muschel, Steine, Kreuzungen, Wegmarken)
Mikroabenteuer mit Kindern
Große Erlebnisse mit wenig Aufwand

Herausforderungen und Chancen
Wenn Kinder keine Lust mehr haben
Natürlich gibt es sie – die Tage, an denen der Weg zu lang, der Rucksack zu schwer, die Motivation im Keller ist. Dann braucht es keine Durchhalteparolen, sondern Verständnis und Flexibilität. Ein Pausentag, ein improvisiertes Spiel unterwegs oder ein Eis im nächsten Dorf können Wunder wirken. Auch Mitentscheiden hilft: „Willst du lieber hier rasten oder noch bis zur nächsten Bank?“
Was Kinder vom Jakobsweg mitnehmen
Die Erlebnisse eines Pilgerwegs bleiben. Vielleicht nicht in Form glasklarer Erinnerungen, aber als Körperwissen, als Gefühl von: Ich kann etwas schaffen. Ich bin Teil eines Weges. Ich bin gesehen. Für Kinder bedeutet das:
- Stärkung des Selbstwertgefühls
- Erweiterung der Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrungen
- Erleben von Gemeinschaft, Ritualen und Selbstverantwortung
- Begegnung mit anderen Kulturen, Menschen, Lebensweisen

Der Jakobsweg als Weg zu sich selbst – auch für Kinder
Der Jakobsweg ist kein Allheilmittel, kein Trend, keine pädagogische Methode im herkömmlichen Sinne. Aber er ist ein Erfahrungsraum. Ein Möglichkeitsraum. Ein Raum, in dem Bewegung nicht bewertet wird, sondern wirken darf. Für Kinder, die in einer zunehmend beschleunigten und verplanten Welt leben, ist das ein Geschenk.
Wenn wir mit ihnen diesen Weg gehen – achtsam, aufmerksam, offen – dann bewegen wir uns nicht nur durch die Landschaft. Wir bewegen etwas in uns. Und das ist vielleicht die wertvollste Erfahrung, die der Jakobsweg mit Kindern schenken kann.
Bildquellen
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- Pexels @ Soldiervip
Quellen
- Rupp, A. (2019): Pilgern mit Kindern. Jakobsweg und andere Routen entdecken. Erfahrungsberichte, Tipps zur Planung und Reflexionen über das Unterwegssein mit Kindern.
- Schäfer, B. (2021): Familienpilgern: Mit Kindern unterwegs auf alten Wegen. Praxisnahe Tipps und Impulse für Eltern, Lehrer und Gruppenleiter.
- Jakobsweg.de (Hg.): Pilgern mit Kindern. Inspirationen für unterwegs. Illustrierter Begleiter mit spirituellen Impulsen, Spielen und Mitmachideen.
- www.jakobsweg.de
- www.pilgerweg.de
- www.caminoportugues.info
- www.outdoorkid.de
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