Experteninterview: Erlebnispädagogik und Freizeitpädagogik – „man muss es erleben, um es zu begreifen“

Erlebnispädagogik im Blog von Spielundlern.de

Matthias Rothengaß

Matthias Rothengaß,  geboren 1980 ist seit 2022 geschäftsführender Vorstand bei Aventerra e.V.  Sein beruflicher Hintergrund: Elektroniker, Jugend- & Heimerzieher, Zertifizierter Erlebnispädagoge, Systemischer Coach.

Erlebnispädagogik Matthias Rothengass

Darüber hinaus Mitglied des Kreisvorstand Esslingen des Paritätischen, Mitglied der Bundesvorstand des Bundesverbands Individual- und Erlebnispädagogik e.V.

Vor seiner Zeit bei Aventerra war er viele Jahre in der offenen Kinder- und Jugendarbeit aktiv, hat anschließend eine vollrhythmisierte Ganztagesschule mit aufgebaut und diese dann mit umgewandelt zur Gemeinschaftsschule.

Während der gesamten Zeit war er als Erlebnispädagoge selbstständig und hat ein eigenes Unternehmen aufgebaut sowie 2014 Horizonte gGmbH übernommen.  Heute leitet er ein Team von 6 festangestellten und ca. 75 freien Mitarbeiter*innen.

Grundlagen & Konzept

„Man muss es erleben, um es zu begreifen“ – Warum Erlebnispädagogik mehr ist als Abenteuer

Es gibt Momente, die bleiben haften. Der Junge, der mit verschränkten Armen am Rand sitzt und sagt: „Ich mach da nicht mit.“ Am nächsten Tag trägt er stolz ein Feuerholz-Bündel, hilft beim Kochen und ist mitten in der Gruppe. Oder das stille Mädchen, das beim Klettern über sich hinauswächst und danach zum ersten Mal in der Runde sagt: „Ich bin stolz auf mich.“ Genau für solche Momente machen wir das.

Ich verstehe Erlebnispädagogik als Raum für echte Begegnungen – mit sich selbst, mit anderen, mit der Natur. Sie beginnt dort, wo wir rausgehen aus dem Gewohnten, dem Klassenzimmer, dem festen Zeitplan. Wo es plötzlich darauf ankommt, ob ich die Karte lesen kann, ob wir gemeinsam einen Fluss überqueren, ob wir uns vertrauen. Erlebnispädagogik bedeutet: Handeln, Erleben, Reflektieren – und dabei wachsen. Und das nicht auf zufällige Weise, sondern auf der Grundlage klarer pädagogischer Zielsetzungen.

Uns ist wichtig, dass es nicht um den schnellen Kick geht, sondern um nachhaltige Entwicklung. Deshalb arbeiten wir nach einem ganzheitlichen Ansatz: Mit Herz, Hand und Verstand – und mit einer klaren pädagogischen Haltung. Die Verbindung zur Waldorfpädagogik ist dabei ein prägender Bestandteil unserer Programmarbeit. Nicht, weil wir ausschließlich aus diesem Umfeld stammen, sondern weil sich in der Kombination beider Ansätze wertvolle Synergien ergeben: Waldorfpädagogik bringt den Blick für Entwicklungsphasen und kreative Prozesse ein, die Erlebnispädagogik schafft durch konkrete Herausforderungen Erfahrungsräume. Dieses Zusammenspiel ermöglicht tiefgreifende Lernprozesse – individuell und in der Gruppe.

Erlebnispädagogik im Blog von Spielundlern.de

Vom Spiel zur Selbstwirksamkeit – Freizeitpädagogik als gestalteter Erfahrungsraum

Freizeitpädagogik ist für uns ein bedeutender Bestandteil pädagogischer Arbeit – besonders in Ganztagsschulen, aber auch darüber hinaus. Sie schafft Räume außerhalb des formalen Lernens und bietet Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, sich selbstbestimmt und kreativ zu betätigen. In der Freizeitpädagogik steckt viel Potenzial für Entwicklung – gerade weil sie nicht an schulische Leistung geknüpft ist, sondern durch Freiwilligkeit, Mitgestaltung und Gemeinschaft geprägt wird.

Unsere Kinder- und Jugendreisen sowie die Ferienbetreuungen sind gelebte Freizeitpädagogik. Hier gestalten wir gemeinsam mit den Teilnehmenden Handlungsräume, die sie aktiv mit Leben füllen. Das kann bedeuten, das Zeltlager selbst aufzubauen, die Essensplanung im Team zu übernehmen oder den Tagesablauf mitzubestimmen. Diese Erlebnisse werden durch pädagogisch ausgebildete Teamer*innen begleitet und bewusst reflektiert. Die Erlebnispädagogik ist dabei ein wesentliches Element: Sie liefert die Methoden und den Rahmen, um Partizipation, Kooperation und Selbstwirksamkeit konkret erfahrbar zu machen.

Der Unterschied zu klassischen erlebnispädagogischen Bildungsprogrammen liegt in der Zielsetzung: Während dort oft ein bestimmtes Lern- oder Trainingsziel im Fokus steht, geht es in der Freizeitpädagogik vor allem darum, gemeinsam Freizeit aktiv zu gestalten – mit echten Aufgaben, echten Entscheidungen und echtem Erleben.

Weidenhütten für Outdoor-Aktivitäten

Fallschirm-Schwungtuch, 6,1 m, mit 16 Schlaufen

Tipi, groß, 270 Ø x 325 (Höhe) cm, für Outdoor-Spiele

Kita, Schule, Therapie – und überall dazwischen

Erlebnispädagogik ist kein starres Konzept, sondern ein vielfältiger Ansatz, der sich an unterschiedliche Zielgruppen und Kontexte anpassen lässt – von der frühkindlichen Bildung bis zur therapeutischen Begleitung.

Im Kita-Bereich steht das Spiel, das Erzählen und das gemeinsame Erleben im Vordergrund. Kleine Expeditionen in den Wald, Abenteuer im Außengelände oder selbst erfundene Geschichten, die mit Bewegung und Naturerfahrung verknüpft werden – all das sind Zugänge, die Kinder auf ihre Art in Berührung mit sich und der Welt bringen. Reflexionsprozesse finden hier weniger über Sprache, sondern vielmehr über kreative Ausdrucksformen statt – etwa durch das Malen von Bildern oder das Nachspielen des Erlebten.

Erlebnispädagogik im Blog von Spielundlern.de

In der Schule – oder ganz allgemein im Bildungskontext – wird zunehmend klar, dass es neben der Vermittlung von Fachwissen sogenannte Future Skills braucht: Kreativität, Kollaboration, kritisches Denken, Selbstregulation und Resilienz. Genau hier setzt Erlebnispädagogik an. Durch ihre Methodenvielfalt eröffnet sie Lern- und Erfahrungsräume, die weit über kognitive Prozesse hinausgehen. Es entsteht Raum für Selbstwirksamkeit, für eine positive Fehlerkultur und für das Erproben komplexer Handlungsmuster – erlebnisbasiert, handlungsorientiert und immer mit Bezug zur Lebenswirklichkeit der Teilnehmenden.

In therapeutischen Kontexten sprechen wir gezielt von Erlebnistherapie. Hier verbinden sich erlebnispädagogisches und therapeutisches Handeln zu einem besonders wirkungsvollen Prozess – vor allem bei Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf. Solche Maßnahmen müssen sorgsam geplant und begleitet werden: Sie erfordern nicht nur fundierte erlebnispädagogische Kompetenzen, sondern auch tiefgreifendes therapeutisches Wissen. In der Verbindung beider Professionen entstehen Räume, in denen sich Vertrauen, Grenzerfahrung und Veränderung entfalten können.

Und dann gibt es all die Zwischenräume: Familienprojekte, Integrationsarbeit, inklusive Ferienfreizeiten. Überall dort, wo Menschen sich begegnen, Herausforderungen gemeinsam bewältigen und sich selbst als Teil einer Gemeinschaft erleben, kann Erlebnispädagogik ihre Kraft entfalten.

Experteninterview: Psychotherapeut Dr. Florian Theis zu Imaginationsübungen in der Therapie

Alles über die therapeutische Anwendung

Bild zur Fantasiereise für Kinder.

Mehr als Natur – Handlungsorientierung als Schlüssel

Erlebnispädagogik wird klassisch in der Natur oder in naturnahen Räumen verortet – und das zu Recht: Die Natur schafft intensive Erfahrungsräume, lädt zur Bewegung ein, bietet Herausforderung und Ruhe zugleich. Doch der Kern der Erlebnispädagogik liegt nicht im Ort, sondern in der Methode: handlungsorientiertes, erfahrungsbasiertes Lernen.

Wenn wir diesen Grundsatz ernst nehmen, eröffnet sich ein viel größerer Handlungsraum. Denn auch ein LEGO-Roboter-Projekt kann erlebnispädagogisch wirksam sein – vorausgesetzt, es wird so gestaltet, dass Kinder und Jugendliche sich als aktiv, wirksam und verantwortlich erleben. Entscheidend ist, ob echte Prozesse stattfinden: Zusammenarbeit, Problemlösung, kreative Gestaltung, Verantwortung übernehmen, Reflektieren.

Diese Haltung ermöglicht es uns, auch in urbanen, technischen oder digitalen Kontexten erlebnispädagogisch zu arbeiten – immer mit dem Ziel, Entwicklung zu fördern und Menschen in Kontakt mit sich selbst und der Welt zu bringen.

Was wirkt – und was nicht planbar ist

Wirkung zeigt sich oft dann, wenn man gar nicht mehr damit rechnet. Ein Junge mit ADHS, der zum ersten Mal still wird, weil er Tierspuren im Wald entdeckt. Eine Jugendliche, die nicht schwimmen kann, aber mutig mit ins Kanu steigt – und am Ende freiwillig das Wasser berührt. Es sind kleine Schritte mit großer Wirkung. Was uns in der Reflexion immer wieder begegnet: Kinder und Jugendliche lernen, dass sie Einfluss nehmen können. Dass sie gestalten können. Dass sie dazugehören.

Erlebnispädagogik im Blog von Spielundlern.de

Herausforderungen und Chancen im Alltag

Natürlich: Der Stundenplan ist voll, die Zeit knapp, das Personal fehlt. Aber: Wenn wir Raum schaffen – und sei es nur für einen halben Tag im Wald –, entsteht etwas Besonderes. Und es lässt sich viel erreichen, wenn man gemeinsam plant. Viele Programme sind so konzipiert, dass sie sich auch in Schulvormittage integrieren lassen. Und ja: Es braucht den Mut, sich auf das Ungewohnte einzulassen. Aber dafür gibt es dann erfahrene Begleiter*innen, die wissen, wie man solche Prozesse sicher und sinnvoll gestaltet.

Blick in die Zukunft – was uns bewegt

Die Herausforderungen, vor denen Kinder und Jugendliche heute stehen, sind groß: Leistungsdruck, Medienflut, Vereinsamung. Gleichzeitig ist der Ruf nach echter Begegnung, nach Sinn, nach Gemeinschaft lauter denn je. Ich sehe in der Erlebnispädagogik einen starken Gegenpol. Einen Ort, an dem junge Menschen sich spüren dürfen. Wo Fehler erlaubt sind. Wo es nicht um Bewertung, sondern um Entwicklung geht.

Deshalb braucht es gute Ausbildung und verlässliche Qualität. Ich kann allen Kolleg*innen aus Kita, Schule und Therapie nur ans Herz legen: Kommt raus. Probiert es aus. Ihr werdet überrascht sein, was sich bewegt.

In unserem SpielundLern Shop bieten wir eine große Auswahl an Materialien im Bereich Senioren und Altenpflege. Ein wichtiger Produktzweig sind die Bücher und Karten zur Biographiearbeit sowie eine große Auswahl an vielfältigen Aktivierungskarten und Vorlesegeschichten für Senioren. Wir freuen uns auf Ihren Besuch!

Bildquellen

  • Unsplash @ Gabby Orcutt
  • Foto des Autors @ Matthias Rothengaß
  • Unsplash @ Markus Spiske
  • Unsplash @ Markus Spiske
  • Pexels @ Matvalina

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Die Datenschutzbestimmungen habe ich zur Kenntnis genommen.