ADHS im Erwachsenenalter

Lange galt ADHS als Kinderkrankheit, oft auch als Modeerkrankung aus den USA: gestresste Eltern gehen Pharmakonzerne auf den Leim und lassen die Abweichungen ihrer Kinder vom normierten Wohlverhalten zum Krankheitsbild erklären. Dafür bekommen Kinder ihr Ritalin, die Eltern endlich Ruhe. Aber schon im Jahre 1798 widmete der englische Arzt Alexander Crichton 46 Seiten seiner Studie über „mental derangement“ dem Phänomen einer gesteigerten Ablenkbarkeit („heightened distractability“).1 Und schon damals beschrieb Chrichton Kinder und Erwachsene als Betroffene.2 In der Forschung ist mittlerweile anerkannt, dass ADHS nicht auf die Kindheit beschränkt ist, sich also nicht einfach „auswächst“.

Mit ADHS leben

In Langzeitstudien wurde die Entwicklung von Kindern mit ADHS bis nach der Adoleszenz untersucht: „Heute wissen wir, dass ungefähr 60% der betroffenen Kinder auch im Erwachsenenalter mit Beeinträchtigungen aufgrund ihrer ADHS zu kämpfen haben. Man schätzt, dass insgesamt etwa 3-4% aller Erwachsenen von ADHS betroffen sind.“3 Die Symptome mögen sich im Erwachsenenalter teilweise verändern (Stichwort Symptomverschiebung). Aber ein Großteil der Betroffenen muss also auch nach Kindheit und Adoleszenz mit der Herausforderung eines Aufmerksamkeitssyndroms leben (lernen). Viele Autoren und Informationsseiten im Internet verweisen allerdings auch darauf, dass Menschen mit ADHS nicht nur Defizite aufweisen. Auf der anderen Seite verfügen sie auch über besondere Ressourcen, die zu Erfolgen im Beruf beitragen können.4 Walter Hultzsch, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und ADS-Coach, betont dabei die Bedeutung einer stabilisierenden Partnerschaft für ADHS-Betroffene: „ADHS ist sicher auch Grundlage vieler positiven Eigenschaften: Kreativität, Entwicklungsdrang, Forschung und Selbständigkeit. Erwachsene in diesen Rollen brauchen dann aber einen festen Partner, der ihre Struktur stabilisiert und sie unterstützt. Fehlt dieser, so kann es schnell zum Zusammenbruch kommen.“5

Symptome und Symptomverschiebung

ADS steht für Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom oder Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Kinder mit ADHS sind zusätzlich hyperaktiv. Eine populäre und immer noch relativ frühe Darstellung davon, wie Erwachsene solche Kinder wahrnehmen, findet sich in Heinrich Hoffmanns 1844 entstandenem Struwwelpeter-Buch. Hoffmann, praktischer Arzt und Geburtshelfer, schuf Figuren wie den Zappelphilipp oder Hans-Guck-In-Die-Luft. Er illustrierte damit in seinem mit Reimen versehenen Bilderbuch geradezu Prägnanztypen für die kindliche ADHS. Von hier leitet sich sogar die Namensgebung des Zappelphilipp-Syndroms ab. Andererseits mag der immense Erfolg des Hoffmannschen Buchs auch dazu beigetragen haben, die Wahrnehmung der ADHS-Symptomatik auf Erscheinungen in der Kindheit zu beschränken. Hinzu kommt aber auch, dass die Symptome im Erwachsenenalter sich in ihrer Erscheinungsweise zumindest teilweise verändern.

Typische Verhaltensweisen bei ADHS

Nach Johanna und Klaus H. Krause finden sich Hinweise auf das Vorhandensein von ADHS bei Erwachsenen in Verhaltensweisen und Defiziten, die isoliert betrachtet nicht allzu problematisch erscheinen könnten:

  • Schwierigkeiten, in der Ausführung zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen zu differenzieren
  • fehlender Überblick bei der Arbeitsorganisation, Ausführung mehrerer Arbeiten „gleichzeitig“
  • häufige Stimmungswechsel, die zu schwankender Arbeitsleistung führen
  • hektische Sprechweise
  • Erinnerungsprobleme bei eigenen Handlungen
  • Neigung zu Risikosportarten, die zu einer als angenehm empfundenen, besonderen Konzentrationsleistung zwingen
  • impulsives Kommunizieren eigener Ideen
  • ungeduldiges bis aggressives Verhalten in Wartesituationen oder wenn andere als zu langsam empfunden werden
  • Vermeidung von Situationen, die eine körperliche Ruhigstellung erfordern (z.B. Theaterbesuche, Langstreckenflüge)6

 

Die UTAH-Kriterien bei ADHS im Erwachsenenalter

impulsiver ErwachsenerErst 1995 formulierte Paul H. Wender, US-amerikanischer Psychiatrie-Professor und Autor von Standardwerken wie „The hyperactive Child“ (1974), einen Kriterienkatalog für das Syndrom bei Erwachsenen. Von diese sieben Kriterien, Wender-UTAH-Kriterien genannt und mittlerweile international in der ADHS-Diagnostik eingesetzt, müssen mindestens vier für eine positive Diagnose erfüllt sein:

  • Aufmerksamkeitsstörung (obligat)
  • Motorische Hyperaktivität (obligat)
  • Desorganisiertes Verhalten
  • Affektlabilität
  • Störung und Affektkontrolle
  • Impulsivität
  • Emotionale Überreagibilität

Für Matthias Bender schließt sich hier der Kreis: „Mit Wenders Publikation Attention-Deficit Hyperactivity Disorder in Adults war das Thema damit, fast 200 Jahre nach Crichton, wieder auf der diagnostischen und therapeutischen Agenda angekommen“.7 Im Unterschied zur kindlichen ADHS tritt eine motorische Hyperaktivität im Erwachsenenalter aber nur selten deutlich auf. Der „hyperaktiv-impulsive Subtyp“ erscheint „bei Erwachsenen von untergeordneter Bedeutung“.8 Die äußerlich auffällige motorische Hyperaktivität bei Kindern mit ADHS wandelt sich zu anderen Erscheinungsformen. Dazu gehören zum Beispiel innere Unruhe, die Unfähigkeit, sich zu entspannen oder eine „Dysphorie bei Inaktivität“. Diese Symptome, in den Wender-UTAH-Kriterien ausdrücklich als Spezifizierungen der obligaten „Motorischen Hyperaktivität“ aufgeführt9, verringern selbstverständlich die Augenfälligkeit einer fortgesetzten ADHS-Symptomatik.

Schwierigkeiten bei der Diagnose von ADHS im Erwachsenenalter

Andere mögliche Erscheinungen bei betroffenen Kindern verlieren sich beim Übergang ins Erwachsenenalter durchaus. Dagegen lassen sich allerdings pathologische Begleiterscheinungen, sogenannte Komorbiditäten, bei Erwachsenen signifikant häufiger beobachten:

„Die gute Nachricht: Einige Symptome verschwinden tatsächlich. So haben Erwachsene mit ADHS kaum noch motorische Defizite oder Sprachstörungen, Tics und Bettnässen sind ebenfalls selten, und auch das Sozialverhalten ist kaum noch gestört. Dagegen rücken neue Symptome in den Vordergrund: Die Prävalenz von Angststörungen und Depressionen ist bei Erwachsenen mit ADHS doppelt so hoch wie bei Jugendlichen, soziale Phobien werden bei mehr als einem Fünftel der erkrankten Erwachsenen beobachtet.“10

Bei einem Erwachsenen in einem klinischen Verfahren das erste Mal ADHS zu diagnostizieren hat zwei Voraussetzungen. Erstens muss natürlich eine ausreichende Plausibilität festgestellt werden können. Zweitens muss bei dem/der Betroffenen bereits in der Kindheit die entsprechende Symptomatik vorliegen: „However, a patient must have had ADHD as a child to be diagnosed with ADHD as an adult.“11

Auch angesichts der Schwierigkeit, das Vorhandensein einer kindlichen ADHS im Nachhinein nachzuvollziehen, spricht sich Wenders dafür aus, sich neben standardisierten Frage- und Diagnosebögen wie das ADHS-Screening für Erwachsene (ADHS-E) auch auf die Auswertung der Patientengespräche zu stützen: „rating scales are not as good as interviews.“12

Ursachen für ADHS

ADHS gilt heute als genetisch bedingt. Eltern können es an ihre Kinder vererben. Entsprechende Wahrscheinlichkeiten sind wissenschaftlich über Zwillings- und Adoptionsstudien erfasst. Die Disposition für die Entstehung einer ADHS lässt sich weitgehend neurobiologisch erklären:

„Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität gelten zum gegenwärtigen Stand der Forschung als Folge einer Störung der Kommunikation zwischen Stirnhirn und Basalganglien. Bei ADS/ADHS ist die Aktivität der Nervenzellen in diesem Bereich deutlich herabgesetzt. Ausschlaggebend dafür ist ein Ungleichgewicht von Botenstoffen im synaptischen Spalt.“13

Mittels Computertomografie kann nachgewiesen werden, dass der wichtigste Neurotransmitter, das Dopamin, bei der Informationsübertragung zu schnell wieder von den Nervenzellen absorbiert wird. Im Grunde genommen kommt es damit zu einer Reizüberflutung.14 Mit anderen Worten erscheint ADHS so als Regulationsstörung wichtiger Botenstoffe im Gehirn. Auch wenn die Forschung damit keineswegs über keine vollständige Aufklärung der Ursachen und Zusammenhänge bei der Entstehung des Syndroms verfügt. Es lässt sich so doch gesichert sagen, dass ADHS-Patienten „deutliche Auffälligkeiten in den Botenstoffsystemen des Gehirns [aufweisen], die für die Informationsübertragung und das Zusammenspiel von Hirnregionen miteinander zuständig sind.“15

Von hier aus ist es – besonders in der Auseinandersetzung mit dem Einzelfall – allerdings ein weiter Weg, das konkrete Zusammenspiel von Veranlagung und Umwelt, von Disposition und Bedingungen für die tatsächliche Herausbildung einer ADHS in ihren verschiedenen Ausprägungsgraden wirklich zu erklären.

Auswirkungen im Alltag

ADHS ist in seinen Auswirkungen eine alle Lebensbereiche berührende Symptomatik. In der Ausbildung können Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit oft nicht die ihren Begabungen entsprechenden Ergebnisse erzielen. Wenn in den weiterführenden Schulen die Anforderungen an Konzentration im Unterricht und Ausdauer beim Lernen steigen, nehmen auch die Schulprobleme zu: „ADHS geht mit einer erhöhten Rate an Klassenwiederholungen, geringer qualifizierten Bildungsabschlüssen, Ausbildungsabbrüchen, fehlenden Ausbildungen und Studienschwierigkeiten einher.“16 In der Konsequenz sind ADHS-Betroffene im Vergleich zu ihrem Begabungsniveau oft unterqualifiziert beschäftigt. Oder sie müssen einer Tendenz zu langsamerem bzw. fehlerhaftem Arbeiten durch permanentes Ans-Limit-Gehen entgegensteuern, um nicht auf massive Problemen im Beruf zu stoßen. Dementsprechend resultiert für ADHS-Betroffene  aus der wiederholten Konfrontation mit den eigenen Einschränkungen und Misserfolgserfahrungen oft ein stark vermindertes Selbstvertrauen. Schließlich kann sich ein weitgehendes Vermeidungsverhalten herausbilden. Erledigungen werden herausgeschoben, alltägliche Herausforderungen umgangen, wodurch zusätzliche Schwierigkeiten in der Lebensbewältigung entstehen. Die mit ADHS häufig einhergehende Impulsivität und die Neigung zur emotionalen Überreaktion führen zu einer fortgesetzten Belastung sozialer Beziehungen. Insbesondere Partnerschaften leiden erhöht unter unvorhersehbarem Verhalten oder unvermittelten Wutausbrüchen von Menschen mit ADHS.17

Ist ADHS eine Krankheit?

Wer sich damit auseinandersetzen muss, ob selbst betroffen zu sein, für den kann es eine wichtige Frage sein, ob ADS(H)S als Krankheit zu verstehen ist. Generell besteht bei der Klassifizierung als Erkrankung immer auch ein erhöhtes Risiko der Stigmatisierung und der Tendenz zur Selbstentwertung. Es ist daher ratsam, den Begriff der Erkrankung nur in Relation zur jeweils individuellen Problematik eines Betroffenen anzuwenden, d.h. abhängig davon, ob er (und gegebenenfalls sein Umfeld) die Symptomatik als Krankheit erleben:

„Manche Menschen sind leicht betroffen und kommen mit ihrer Veranlagung mehr oder weniger gut zurecht. Sie würden ADS sicherlich nicht als Krankheit bezeichnen, sondern vielmehr als eine andere Art, die Welt zu sehen und auf sie zu reagieren. Andere Menschen sind stark beeinträchtigt, leiden erheblich und benötigen Hilfen. In diesem Fall hat ADS Krankheitswert. ADS würde nicht krank machen, wenn die Gesellschaft diese Menschen so akzeptieren würde, wie sie sind und sich auf ihre Besonderheiten einstellen würde.“18

Dementsprechend argumentiertet Helmut Bonney gegen eine Pathologisierung von Verhaltensauffälligkeiten im Kontext von ADHS und gegen eine Verortung der damit einhergehenden Probleme einseitig im Individuum. Bonney, Autor von „ADHS – na und? Vom heilsamen Umgang mit handlungsbereiten wahrnehmungsstarken Kindern“, plädiert dafür, ADHS vornehmlich als kulturelles Phänomen zu begreifen.19

Die positiven Aspekte sehen

Auch andere Studien betonen die spezifischen Qualitäten von Menschen mit ADHS, die sich auch beruflich nutzen lassen. Das Aufmerksamkeitsdefizit erfordert situationsbedingt z.B. die Herausbildung einer raschen Auffassungsgabe, von besonderer Kreativität und Flexibilität. Überdurchschnittlich oft zeigen ADHS-Betroffene eine erhöhte Risikobereitschaft und Begeisterungsfähigkeit. In dem 2016 erschienenen Ratgeber „ADHS im Erwachsenenalter. Strategien und Hilfen für die Alltagsbewältigung“ kommen die Autoren daher zu der Schlussfolgerung: „Unsere Welt wäre ohne Menschen mit ADHS ärmer, denn wir brauchen sie als diejenigen, die Innovationen, Revolutionen und Reformen machen, die hinterfragen und den Mut zum ‚Anders-Sein‘ haben.“20

 


Quellenverweise:
1 Chrichton, Alexander, zitiert nach Bender, Matthias: „1798“ oder Zur Geschichte von ADHS bei Erwachsenen, S.4
2 vgl. Bender, Matthias: „1798“, S.4 3 http://www.info-adhs.de/adhs-bei-erwachsenen.html
4 vgl. Bea, Myriam/Rudolph, Matthias: ADHS & Berufsleben, Vom Wendepunkt zu neuen Zielen, S.5
5 http://www.ads-im-erwachsenenalter.de/hab_ich_ads.html 6 vgl: Bender, S. 30
7 ebd., S.29 8 Flyer Zentralinstitut für seelische Gesundheit Mannheim, https://www.zi-mannheim.de/fileadmin/user_upload/downloads/lehre/flyer/Flyer- ADHS_im_Erwachsenenalter.pdf, S.2
9 ebd., S.2 10 Ärzte Zeitung für Neurologen/Psychiater, 13.08.2010, http://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/neuro- psychiatrische_krankheiten/adhs/article/608922/adhs-bleibt-symptome-aendern.html 11 Wender, Paul H.: ADHD in Adults. Valid Diagnosis and Treatment Strategies?, S.4 12 Wender, Paul H.: ADHD in Adults , S.5
13 Bender, S.12 14 ebd., S.13
15 http://www.info-adhs.de/adhs-verstehen/was-sind-die-ursachen.html
16 Sobanski, Esther: ADHS im Erwachsenenalter, S. 16
17 Vgl. Sobanski, Esther, S.17
18 Christine Falk-Frühbrodt, M.A., https://www.adhs-hyperaktivitaet.de/Was_ist_ADS_ADHS.htm
19 vgl. ADHS ist keine Krankheit, Interview, http://www.spektrum.de/news/adhs-ist-keine-krankheit/1160674
20 ADHS im Erwachsenenalter. Strategien und Hilfen für die Alltagsbewältigung

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