Starrheit oder Individualität?
Statt einem starren Katalog an Benimmregeln, wie früher üblich, werden heutige Höflichkeitsformen recht individuell behandelt. Wurde früher ein Kind dazu gezwungen, sich für ein Geschenk zu bedanken, so ist dies heute häufig nicht mehr der Fall. Musste ein Kind ehemals bei Tisch still sein, so sind heute die Tischmanieren so unterschiedlich wie die Familien selbst.
Wie vieles andere auch, sind auch die Benimmregeln für Kinder individueller geworden und weichen von Familien zu Familie ab. Zu dieser Entwicklung trugen vor allem zwei Dinge bei:
- der altersgerechte Blick auf das Kind, der das Kind als dem Erwachsenen gleichwertiges Individuum wahrnahm und zunehmend angepasstere Verhaltensweisen förderte sowie
- die Abschaffung von gesellschaftlich bindenden Ständen und sozialen Klassen und damit die Loslösung von Benimmregeln vom gesellschaftlichen Stand.

Gibt es heute überhaupt noch Höflichkeitsformen, die bindend sind? Folgende 10 Benimmregeln für Kinder gelten (noch) heute und werden in vielen Familien und sozialen Interaktionen als notwendig angesehen:
1. Ausreden lassen
Nicht ins Wort fallen – und zuhören. Dies galt schon immer in der Geschichte der Höflichkeit. Um 1850 schrieb Lehmann: „Unterbrich nie, lasse ausreden; antworte nie mit bloßem „Ja” oder „Nein”, noch viel weniger mit Geberden statt mit Worten.“
2. Keine Beschimpfungen
Höfliche Ausdrucksformen („Bitte“, „Danke“, „Entschuldigung“) gehören zum guten Benehmen. Beschimpfungen haben nirgendwo Platz. Dies benötigt natürlich der anfänglichen Unterstützung Erwachsener. Denn jeder Beschimpfung hat einen Grund: Frust, Wut oder Überreizung. Gibt man den Kindern eine Hilfestellung, wie sie ihre Gefühle besser mitteilen, können sie irgendwann auf Beschimpfungen verzichten.

3. Nicht hauen, nicht schubsen, Körpergrenzen achten
Genauso sollte man vorgehen, wenn Kinder hauen oder schubsen. Es wäre unzeitgemäß, die Kinder zu strafen. Zur heutigen Erziehung gehört das klare Verbieten von Schubsen und Hauen. Immer jedoch sollte dies gepaart sein mit der Bemühung, das Kind zu befähigen, seinen Gefühlen auf anderer Weise Ausdruck zu verleihen.
4. Körpergrenzen achten
Wichtig ist auch, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass nicht nur hauen oder schubsen, also aggressive, impulsive Verhalten, die Körpergrenzen verletzt. Setzt man sich zu nah dran an einem Menschen, berührt man Mitmenschen versehntlich, umarmt man oder küsst sie ohne Erlaubnis – dies alles ist unhöflich und sogar übergriffig.
Körpergrenzen achten ist wichtig für den Kinderschutz und auch ganz allgemein, um seinen eigenen Grenzen zu erkennen und zu wahren. Dies lernen Kinder zunehmend – wir Erwachsenen sind ihnen Beispiel. Lassen sich Eltern immer wieder vom Arbeitgeber zu unfreiwilliger Wochenendarbeit drängen, sagen sie der Geburtstagseinladung der zerstrittenen Schwiegereltern zu, lassen sie sich zur Beteiligung am Schulbasar zwingen, weil sie in allem nicht „Nein“ sagen können, so lernen Kinder ebenfalls nicht, wie man seine eigenen Bedürfnisse wahrt.
Kitzelt man ein Kind und es ruft „Nein“, sollten Eltern umgehend aufhören, auch wenn die Situation im Spiel und sehr lustig angefangen hat. Denn damit lernen Kinder: Mein „Nein“ gilt, sogar wenn ich dabei selbst lachen muss – und das „Nein“ der anderen gilt dementsprechend dann auch jederzeit und ist unmissverständlich.

5. Nicht mit vollem Mund sprechen
Tischmanieren nehmen einen großen Platz in den Benimmregeln ein. Ellenbogen gehören nicht auf den Tisch, die Serviette auf den Schoß und gegessen wird mit Besteck und geschlossenem Mund. Dies ist ein Mindestregelwerk für Tischmanieren.
Auch wenn heute viele Kinder die Verwendung einer Serviette nicht für nötig hält, bleiben einige Regeln der Tischmanieren bestehen. Eine Serviette auf dem Schoß kennen die wenigsten heutigen Kinder. Ebenfalls wissen viele Kinder nicht, dass die Ellenbogen beim Essen nicht auf dem Tisch aufliegen sollen. Wohl bekannt ist ihnen allerdings die Regel, dass sie nicht mit vollem Mund reden, nicht mit der Hand essen und nicht anfangen sollen, bevor alle am Tisch sitzen.
6. Keine Körpergeräusche bei Tisch
Pupsen, Rülpsen oder Fäkalsprache gehören nicht bei Tisch. Natürlich auch sonst nirgendwo in sozialen Interaktionen. Dennoch wird heute zumeist akzeptiert, wenn Heranwachsende aus Spaß oder im Klassenverband gewisse Dinge tun, die uns Erwachsene abstoßen. Es gibt keine Schulkantine, die nicht allerlei Rülpser oder In-der-Nase-Bohren erlebt hat. Früher wurden solche Ausreißer streng bestraft und solcherlei „Spaß“ in keinem Zusammenhang erlaubt. Heute gibt es zum Glück keine solch drastischen Strafen mehr. Dennoch gilt auch heute noch: Bitte bei Tisch oder im Beisein anderer keine Körpergeräusche von sich geben.
7. In der Gruppe nicht heimlich tuscheln
Flüstern in Gegenwart anderer gilt als unhöflich. Diese Benimmregel ist heutzutage einem Großteil der Menschen nicht mehr vertraut. Dabei lässt sich dies wunderbar erklären und nachvollziehen.
Flüstern schließt Menschen aus, die in Hörweite sind. Das Flüstern deutet auf eine Aussage hin, die in der Öffentlichkeit nicht laut ausgesprochen werden darf. Es kann missverstanden werden, denn es lässt Raum für Interpretation.
Aber was tun? Gerade kleine Kinder tendieren häufig dazu, ihren Eltern in Gesellschaft anderer etwas ins Ohr zu flüstern. Häufig passiert dies bei Kindern aus Schüchternheit und nicht, weil der Inhalt des Gesagten peinlich ist oder andere einbezieht. Daher ist es wichtig, altersgemäß vorzugehen.

Kinder bis zum Grundschulalter unkommentiert flüstern zu lassen ist dennoch nicht das Mittel der Wahl. Sie sollten flüstern dürfen, denn eine Erklärung trüge in diesem Alter keine Früchte. Jedoch sind wir als Erwachsene in diesem Fall dazu angehalten, das Flüstern laut zu beantworten und für die Gesellschaft, in der wir uns gerade befinden, auf höfliche Art aufzulösen. Flüstert ein Kleinkinder beispielsweise, dass er durstig ist, so kann der Erwachsene in normale Lautstärke kommentieren mit: „Gerne bringe ich dir etwas zu trinken.“ Flüstert ein Kleinkind Unangenehmes über das Gegenüber, etwa dass es „doof ist“, „komische Haare hat“ oder „ein hässliches Kleid“, so könnte der Erwachsene antworten: „Wir sprechen später in Ruhe darüber, in Ordnung?“ Damit wird das Kind nicht mit Belehrungen oder einer Bloßstellung beschämt. Später bietet sich eine Gelegenheit, über Empathie und eine liebevolle Wortwahl zu sprechen.
Ähnlich kann man auch bei Grundschulkindern reagieren, diesen kann man jedoch offen sagen, dass Tuscheln in Gesellschaft als unhöflich gilt.
8. Nicht petzen, nicht lügen
Es ist wohl ein schmaler Grat. Jeder Mensch lügt, meist aus Anstand oder Höflichkeit. Da ist es schwer, den Kindern dies zu verbieten. Aber wie erklärt man, wann petzen und lügen nicht erlaubt sind? Hilfreich ist hier der Grundsatz der Wirkung. Erzählt man dem Lehrer vom Mitschüler, der gerade Turnübungen am offenen Fenster des 2. Stockes macht, so petzt man nicht. Es dient dazu, Gefahr zu vermeiden. Berichtet man dem Lehrer hingegen, dass der Sitznachbar schon wieder in der Nase bohrt oder seine Hausaufgaben abgeschrieben hat, so dient dies nur dazu, den Mitschüler zu beschämen. Dies wäre bezeichnet man als petzen.
9. Fremde Dinge nicht ohne Erlaubnis nehmen
Dass man Dinge von anderen nicht einfach wegnimmt, dies verstehen bereits Kleinkinder mit rund 3 Jahren. Eigentumsverhältnisse zu wahren, Dinge anzufragen, statt einfach zu nehmen, Spielzeug tauschen zu lernen, dies alles darf geübt über viele Jahre geübt werden.

10. Pünktlichkeit
Püntlichkeit ist schon seit Knigge um 1700 ein Zeichen von Höflichkeit. Man sollte niemanden warten lassen. Der Business Insider fasst die Regel zusammen: „5 Minuten zu früh ist pünktlich, pünktlich ist unpünktlich und unpünktlich ist unverzeihlich.“
Unpünktlichkeit stellt die Zeit des Unpünktlichen über die Zeit des Wartenden. Damit gerät es zum Machtspiel und ist respektlos. Die Verspätung trägt den Unterton: „Ich bin vielbeschäftigt und wichtig, unser Termin hingegen ist eine Randnotiz und du selbst hattest wohl nichts Besseres vor.“
Viele Kinder sind sehr ungeduldig. Ist ein Spieltermin vereinbart, so warten sie hippelig auf den Freund oder die Freundin. Sie sie selbst die Geladenen, kann es jedoch vorkommen, dass das Anziehen und Losgehen länger dauern als geplant, sodass sie sich verspäten. Wie bringt man Kinder Pünktlichkeit bei?
Eine Stopuhr, die piept, sobald man aufbrechen muss, zeigt den Kinder: Jetzt oder nie! Es ist gut, wenn die Kinder die Stoppuhr selbst einstellen – so lernen sie, Zeit besser einzuschätzen. Hilfreich ist es auch, statt mit Strafen, Drohen, Schimpfen mit Konsequenz zu arbeiten: „Wenn wir es nicht schaffen, in 15 Minuten das Haus zu verlassen, müssen wir dein Spieltreffen verschieben.“ Es hilft dem Kind auch, wenn wir Erwachsenen schon fertig vor der Tür warten. und nicht zuletzt wird empfohlen, dass man selbst pünktlich ist.
Allgemeines zu den Benimmregeln für Kinder
Wie in allen Erziehungsfragen ist es wichtig, mit den Kindern im Gepräch zu bleiben. Bei jeder Benimmregel gelten auch feste Regel für die korrigierend eingreifenden Erwachsenen: Sie sollten immer die Kinder achten, nicht von oben herab auf sie einreden, sie nicht vor anderen bloßstellen oder beschämen, sie nicht auslachen, keinesfalls strafen und nur unter vier Augen Benimmregeln besprechen.
Dabei ist Geduld gefragt: Regeln müssen über Jahre ständig wiederholt werden, bis Kinder sie auch verstehen und sie anwenden.
Grundsätzlich gilt bei allem, was wir unseren Kindern beibringen möchten: Wir Erwachsenen sind jene, die sich zuerst an diesen Regeln halten müssen, an uns werden sich unsere Kinder richten.
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- Pixabay @ Агзам Гайсин
Quellen
- https://www.philomag.de/artikel/ist-hoeflichkeit-eine-tugend?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
- https://www.zeit.de/campus/2018-03/unpuenktlichkeit-hoeflichkeit-verabredungen-verspaetet-kritik
- https://www.businessinsider.de/strategy/warum-puenktliche-menschen-bessere-menschen-sind-2017-7/
- https://www.gutrater-ritterschaft.at/ueber-uns/die-hofzucht-tischsitten/index.html
- https://de.wikipedia.org/wiki/Adolph_Knigge
- https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_den_Umgang_mit_Menschen
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