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Prof. Dr. Ulrich Bartmann
Prof. Dr. Ulrich Bartmann (*1948) ist psychologischer Psychotherapeut. Berufliche Vita: Studium der Psychologie in Marburg und Düsseldorf mit den Nebenfächern Recht und Soziologie, Abschluss als Diplompsychologe. Berufsbegleitendes Studium der Pädagogik an der Universität Paderborn, 1989 mit der Erlangung des akademischen Grades Dr. phil. abgeschlossen.

Zwanzigjährige Tätigkeit als Psychotherapeut in einer psychiatrischen Klinik. Seit 1996 bis zur Pensionierung im September 2013 Professor im Studiengang Soziale Arbeit an der Technischen Hochschule Würzburg Schweinfurt.
Seit 2003 im Raum Würzburg konzipierte und organisierte Weiterbildung zum/zur Lauftherapeuten/in, von 2003 bis 2017 unter der Trägerschaft der Deutschen Gesellschaft, seit 2020 unter der Trägerschaft der Natura-Akademie Prichsenstadt.
Seit 1974 bis heute: Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen auf den Gebieten des therapeutischen Laufens, der Abhängigkeitserkrankungen, der Sozialen Arbeit und der Entspannungsverfahren. Homepage: https://www.lauftherapie-experten.de
Einführung & Hintergrund
Wie definieren Sie persönlich Ausgeglichenheit – im Leben, im Alltag, in der therapeutischen Arbeit?
In meinem Büro hängt ein Spruch von Horatz: „Wahre auch in den widrigen Dingen des Lebens den Gleichmut“. Ich denke, dass dies sehr treffend den Zustand seelischer Ausgeglichenheit charakterisiert – und zwar in allen Lebenslagen. Das gilt auch in der therapeutischen Arbeit, wenn sich der Erfolg nicht in der gewünschten Form zeigt.
Was hat Sie dazu gebracht, sich mit Lauftherapie als Ergänzung zur Psychotherapie zu beschäftigen?
Zur Lauftherapie kam ich über eine Publikation von Alexander Weber über die angstreduzierende Wirkung des Laufens bei alkoholkranken Menschen. Das hat mich neugierig gemacht, zumal ich damals in der psychiatrischen Klinik in Warstein als Verhaltenstherapeut unter anderem auch mit alkoholkranken Männern arbeitete. Bis dahin war ich überzeugt, dass Laufen und Joggen nichts für mich sei. Ich habe dann selbst angefangen zu laufen und spürte bald am eigenen Leib die positiven körperlichen und psychischen Effekte – z.B. weniger Erkältungskrankheiten und stärkere Ausgeglichenheit. Das führte logischerweise dazu, auch mit meinen Patienten in der Klinik zu laufen. Das wurde anfangs zwar zunächst belächelt, aber die Patienten profitierten erheblich von dem Laufen.
Das führte dazu, dass ich mich intensiv mit der therapeutisch orientierten Laufliteratur auseinandersetzte, über das Thema promovierte und das Joggingbuch: „Laufen und Joggen für die Psyche“, schrieb, das nunmehr in der 7. Auflage erschienen ist.

Verbindung von Bewegung und Psyche
Welche Rolle spielt körperliche Bewegung, insbesondere das Laufen, für die psychische Ausgeglichenheit? Gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, die die Wirkung von Lauftherapie auf psychische Stabilität und emotionale Regulation belegen?
Laufen, das zeigen unzählige wissenschaftliche Arbeiten, hat neben den körperlichen Aspekten ganz erhebliche positive psychische Auswirkungen. In dem o.g. Joggingbuch nehme ich Bezug auf über 150 wissenschaftliche Arbeiten über die positiven psychischen Effekte des Joggens. Die folgende Auflistung aus meinem Buch „Verhaltensmodifikation als Methode der Sozialen Arbeit“ macht dies deutlich.
Psychische Aspekte des Joggens
Joggen reduziert:
- Insuffizienzgefühle
- Depressionen
- Ängste
- Psychosomatische Beschwerden
- Burn-out
- Stress
- Schlafstörungen
- Abhängigkeiten
- Störendes Verhalten von Schulkindern

Beispielhaft sei die Untersuchung von Blumenthal et al. (2007) genannt. In der Arbeit wurden 202 erwachsene Männer und Frauen mit einer Depression per Zufall vier unterschiedlichsten Behandlungsformen zugeführt:
- medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva;
- zwei wöchentliche Übungsgruppen mit Aufwärmübungen und anschließendem Laufen oder zügigen Gehen (30 Min.) unter fachlicher Anleitung über 16 Wochen;
- die gleichen Übungen wie die Gruppe 2, allerdings bei sich zu Hause ohne Gruppe und nur mit minimaler fachlicher Anleitung;
- und einer Behandlung mit Placebos.
Nach den vier Monaten waren:
- 47 % der Gruppe 1 (Antidepressiva),
- 45 % der Gruppe 2 (angeleitete Laufübungen in der Gruppe),
- 40 % der Gruppe 3 (häusliche Laufübungen allein) und
- 31 % der Gruppe 4 (Placebo) geheilt,
d. h., sie erfüllten nicht mehr die klinischen Merkmale einer Depression. Die Autorengruppe schließt aus den Ergebnissen, dass die Erfolge der Übungsgruppen mit denen einer medikamentösen Behandlung vergleichbar sind. In einer Nachbeobachtung von einem Jahr zeigte sich, dass der beobachtete 4-monatige Effekt von Bewegung verlängert werden konnte, wenn die Bewegung in der Nachbeobachtungszeit beibehalten wurde.
Das ist, so meine ich, doch ein sehr überzeugender Befund, der aber auch zugleich zeigt, dass Joggen dann am effektivsten ist, wenn es fachlich angeleitet wird, wie ich das in meiner Lauftherapie-Weiterbildung auch vermittle.

Aus der Praxis
Wie integrieren Sie Lauftherapie konkret in Ihren psychotherapeutischen Alltag? Welche Erfahrungen haben Sie mit Klient:innen gemacht, die durch das Laufen spürbar ausgeglichener wurden?
In der Klinik bin ich zweimal in der Woche stationsübergreifend mit den Patient:innen gelaufen. Die größte Schwierigkeit war immer die Angst bei den Patient:innen, nicht laufen zu können. Nach dem 1. Lauftermin war diese Angst weg, da ich immer ganz langsam lief und so jeder in der Lage war, mitzulaufen. Das Tempo für Anfänger:innen ist nicht schneller als ein zügiges Gehen. Vom Gehen unterscheidet es sich in der sog. Flugphase, d.h., einen Augenblick sind – im Gegensatz zum Gehen – beide Füße in der Luft. Dieses besonders langsame Laufen wird in meiner Lauftherapie-Weiterbildung konkret geübt. Ein/e schnelle/r Läufer:in ist noch lange kein/e gute/r Lauftherapeut:in!
Das Besondere der Lauftherapie besteht darin, dass die Patient:innen sich selbst als sehr aktiven Part erleben. Es wird nicht mit ihnen etwas ‚gemacht‘, sie machen gewissermaßen selbst etwas mit sich. Sie bekommen Handlungskompetenz, die zu berechtigten subjektiven Stolz führt – Lauftherapie ist Anleitung zur Selbsthilfe.

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Gibt es ein Beispiel, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Als besonders eindrucksvoll habe ich folgenden Einzelfall erlebt: Ein 40-jähriger Patient litt seit über 5 Jahren vor Beginn des Laufkurses an einem chronischen ‚Schluckauf‘. Die deswegen eingeleiteten ärztlichen Maßnahmen führten trotz verschiedener Operationen zu keinem durchschlagenden Erfolg.
Etwa ab der 3. Woche des Laufkurses fiel mir auf, dass der Patient nicht mehr über seinen Schluckauf klagte. Darauf angesprochen erklärt er., dass er immer schon mal eine oder zwei Wochen „Pause“ bei dem Schluckauf habe. Ab der 6. Woche akzeptierte der Patient für sich selbst einen Zusammenhang zwischen dem Laufen und dem immer noch ausgebliebenen Schluckauf. Nach Absolvieren des Laufprogramms und Beibehalten des Laufens war der Patient von seinen Schluckauf Beschwerden befreit.

Für Pädagog:innen & Therapeut:innen
Was können Fachkräfte in sozialen oder pädagogischen Berufen aus der Lauftherapie für ihre eigene Selbstfürsorge mitnehmen?
Welche niedrigschwelligen Empfehlungen würden Sie Kolleg:innen geben, die mit dem Gedanken spielen, Laufen oder Bewegung als Ressource zu nutzen – für sich oder ihre Klient:innen?
Als Professor für Handlungslehre in der Sozialen Arbeit habe ich meinen Student:innen immer gesagt, dass sie verpflichtet sind, für ihr eigenes Wohlergehen zu sorgen. D.h., dass sie sich eine Quelle erschließen, aus der sie immer wieder Kraft für ihre oft sehr belastende Arbeit finden müssen. Dazu ist das Laufen hervorragend geeignet. Es baut Stress ab und macht den Kopf wieder frei – ein Phänomen, das fast jede/r Läufer:in schon erlebt hat. Daher gehörte zu meinem Lehrangebot auch ‚Laufen als bewegungstherapeutische Methode‘ mit Theorie und regelmäßigen Laufübungen. Die Veranstaltung war bei den Studierenden extrem beliebt und 5 Minuten nach der Freigabe zur Einschreibung alle Plätze belegt.
Externalisierung
Die Loslösung von problematischen Mustern

Wer mit dem Laufen beginnen will, sollte sich einem Laufprogramm zuwenden, wie ich es z.B. in meinem o.g. Buch veröffentlicht habe, also einem Wechsel von Laufen und Gehen. Z.B.: zwei Minuten Laufen und dann zwei Minuten Gehen. Ganz allmählich werden dann die Laufzeiten verlängert. Das Wichtigste dabei ist: Langsam laufen. Man muss so langsam laufen, dass man sich immer noch gut unterhalten kann (sog. aerobes Laufen). Wer aus der ‚Puste‘ kommt, läuft zu schnell – auch wenn er/sie glaubt, dass er/sie langsam läuft.
Wer das Laufen selbst pädagogisch oder therapeutisch verantwortungsvoll einsetzen will, sollte eine Lauftherapieweiterbildung absolvieren, wie ich sie beispielsweise seit über 20 Jahren anbiete (https://natura-akademie.de/a/lauftherapie/). Eins sollte aber klar sein, wer mit Klient:innen läuft kommt als erfahrene/r Läufer:in nicht auf ‚seine Kosten‘ – es ist Arbeit! Man muss immer die Laufgruppe im Auge behalten, darauf achten, dass alle Teilnehmer:innen mitkommen, aber auch, dass niemand vorläuft.

Herausforderungen & Grenzen
Welche Grenzen sehen Sie in der Lauftherapie – gerade bei bestimmten psychischen Erkrankungen oder körperlichen Einschränkungen?
Bei Teilnehmer:innen von Laufkursen besteht immer die Bedingung, dass die Betreffenden sich „grünes Licht“ von ihrem Arzt holen. Körperliche Einschränkungen – orthopädischer oder internistischer Art – sind zwingend zu beachten. Bezüglich psychischer Erkrankungen gibt es da kaum Probleme. Natürlich ist es schwierig, Depressive zum Laufen zu bringen, da ja gerade der Antriebsmangel und die schnelle Ermüdbarkeit zu den Kernsymptomen der Erkrankung gehören. Wenn die Betroffenen aber zum Laufen kommen, profitieren sie in der Regel im hohen Maße davon, wie die o.g. Studie von Blumenthal und seinen Mitarbeiter:innen zeigt.
Wie gehen Sie mit Menschen um, die dem Thema Sport oder Bewegung eher skeptisch gegenüberstehen?
Das Laufen führt sehr schnell zu Erfolgserlebnissen – sobald die ersten Lauftermine absolviert wurden, verschwindet die vielleicht anfängliche Skepsis gegenüber dem Laufen schnell.
Da ich selbst ja lange geglaubt habe, Laufen sei nichts für mich, präsentiere ich mich bei dem Laufen gegenüber skeptisch eingestellten Menschen immer gern als Modell. Dazu gehört auch, dass ich erzähle, dass ich das Gefühl hatte, die Welt erobert zu haben, als ich das erste Mal 5 Minuten ohne Gehpause laufen konnte.

Reflexion & Ausblick
Wie hat sich Ihr eigenes Verständnis von Ausgeglichenheit durch Ihre Arbeit mit Bewegung und Psychotherapie verändert?
Für mich gehört Bewegung, im Gegensatz zu meiner Zeit als Nichtläufer, zu meinem Alltag. Insofern hat das Laufen einen stärkeren Einfluss auf meine Persönlichkeit gehabt als meine psychotherapeutische Arbeit.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft im Hinblick auf die Verbindung von körperlicher und psychischer Gesundheit – auch im pädagogisch-therapeutischen Kontext?
Laufen muss vermittelt werden, und zwar so, dass es den Teilnehmer:innen Spaß macht. Dann ist am ehesten gewährleistet, dass ein Laufkurs nicht nur eine Episode war, sondern einen festen Platz im Alltag erhält. Der klassische Schulsport eignet sich in der Regel nicht dafür, da es da um „Leistung“ geht, die dann noch benotet wird. Ich habe Untersuchungen an Schulen durchführen lassen, die zeigen, Freude am Schulsport haben überwiegend nur die, die auch gute Noten haben. Ein notenbefreiter Schulsport könnte hier ein möglicher Ausweg sein.
Bildquellen
- Dr. U. Bartmann @ Dr. U. Bartmann
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Quellen
- Bartmann, Ulrich (2013): Verhaltensmodifikation als Methode der Sozialen Arbeit, 4. Überarbeitete und erweiterte Auflage, dgvt-Verlag, Tübingen
- Bartmann, Ulrich (2023): Laufen und Joggen für die Psyche, 7. Aktualisierte Auflage, dgvt-Verlag, Tübingen
- Blumenthal, James, A., Babyak, Michael, A., Doraiswamy, P. Murali, Watkins, Lana, Hoffman, Benson, M., Barbour, Krista, A., Herman, Steve, Craighead, W. Edward, Brosse, Alisha, L., Waugh, Robert, Hinderliter, Alan & Sherwood, Andrew (2007). Exercise and pharmacotherapy in the treatment of major depressive disorder. Psychosomatic Medicine, 69 (7), 587–596.
- https://natura-akademie.de/a/lauftherapie/
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